Euphelia lauscht den Worten am Radio. Gestern war alles noch ganz anders, vor einer Stunde auch. Wollen wir wetten? In einer Stunde wird alles ein bißchen anders sein. Dieses Hin und Her kann sie nicht mehr ertragen. Aus. Radio aus. Ruhe. Ist auch nicht besser – dann drehen die Gedanken am Rad. Auch nicht besser. Wie war das eigentlich im letzten Jahr? Euphelia blättert einfach mal zurück. Da ist er – der
Lesen, Kopf schütteln, lachen, weinen, doll weinen, Kopf schütteln, Schultern zucken. Oooohje – letztes Jahr mit diesem zu vergleichen ist soooo schwer. Im letzten Jahr nahmen sie hier den Betrieb wieder auf nach drei Monaten. Nun sind es mehr als sieben Monate Einsamkeit für dieses wundervolle alte Gutshaus, wenn sie den Schlüssel erstmals wieder in die andere Richtung drehen werden. Wann wird das sein? Gestern hatten sie hier einen festen Beschluß gefaßt. Heute merkte Euphelia schon beim gemeinsamen Tee am Radio – Schultern zucken, Kopf schütteln, hinhören, Unsicherheit in den Augen. Was machen sie jetzt richtig? Euphelia weiß nur eines ganz genau: Diese Entscheidung möchte sie gerade nicht treffen. Schnell steckt sie ihr Füßlein in den Silberstiefel und mimt den Schlafmodus. Es ist erst mittags. Wie lange hält sie das durch?
Euphelia hat gestern am späten Vormittag Conny und Torsten beobachtet, wie sie vom Hof verschwunden sind, Hand in Hand. Sie hatten ein Date. Euphelia mußte echt lachen. Noch immer, nach sechseinhalb Jahren, feiern beide an jedem 22. ihren Hochzeitstag. Conny hatte so eine Art Stofftasche in hellblau unter dem Arm, trug normale helle Hosen und dazu ihre Gartenschuhe. Alles sah nach einer romantischen Ausfahrt aus. Torsten strahlte Conny an: „Ich hab da mal was vorbereitet.“ Ach, was fehlt ihm doch dieser Satz. Endlich konnte er ihn anwenden. Ganz Gentleman hielt er ihr die Tür auf – vom Caddy. Beide schnallten sich an. Los ging es. Musik an. Brauchen wir ein Navi? fragte Conny. Na, schaun wir mal.
Die Fahrt endete nach einer Minute und 53 Sekunden. Das Tor von Eulenhausen stand weit offen. Torsten grinste bis zu den beiden Ohren. Als Conny ihn fragend ansah, bekam er voll den Lachkoller. Nun schaute sich Conny ihre Stofftasche, die er ihr noch zu Hause unter den Arm gedrückt hatte, genauer an. Noch immer Tränen lachend öffnete Torsten die Beifahrertür und Conny fiel ihm vor eigenem Lachanfall fast vom Sitz. Ihre Tasche war ein eingerollter Blaumann. Jetzt sah sie beide Freischneider vor dem Wagon in Bereitschaft und frisch getankt. Daneben die Helme und die Westen – und das Zielbier. Na, das wird ein Spaß! Conny war total begeistert. Sie schenkten sich also jeder eine gemähte Fläche. Conny zog ihren Blaumann über, Torsten hatte seine STIHLechten Hosen vorbereitet. Als beide aussahen, wie die Marsmännchen, hängte ihr Torsten den leichten kleinen Damen-Freischneider (Zwirni) vom Park des Gutshauses in die Aufhängung. Noch ein kurzer Klaps auf ihren Helm, Handkuß, Visier runter. Dann zog er an der Schnur und der Lärm begann. Conny hatte sich die Fläche vor dem Wagon ausgesucht. Sie war groß, aber nicht so krass bewachsen und wenig verfilzt. Torsten zog von dannen in Richtung hintere Ruine auf dem Hügel, um weit hinter dem Wagon die große Fläche in Angriff zu nehmen. Sie sah ihm durch ihr Visier hinterher. Seite an Seite mit ihm ging der neue starke wundervolle Freischneider. Eulo, der Recke. Man sah es beiden an, sie waren bereits Freunde geworden. Eulo, der Recke wollte sich von Torsten gar nicht mehr trennen, er hing förmlich an ihm.
In den nächsten Stunden trafen sich Conny und Torsten genau dreimal: zum Tanken der Geräte. Das Dorf genoß eine Sinfonie aus zwei Freischneidern in Stereo und Überlänge.
Als sie sich später mit ihrem Bier, noch in den rasenbestreuten Klamotten, vor dem Bahnsteig versuchten zu setzen, merkten sie beide, daß sie vor zwanzig Jahren echt noch jünger gewesen sind. Doch der Stolz und das wunderbare Gefühl dieser gemeinsamen Aktion wog mehr als der unbewegliche Rücken. So glücklich waren sie schon lange nicht mehr. Eulo der Recke streckte sich aus zu Torstens Füßen, zufrieden und in Vorfreude auf den nächsten Einsatz. Zwirni lag daneben, genauso erschöpft wie Conny und bittend um mindestens einen Tag ausruhen und abkühlen.
Diesen Tag nimmt Conny sich heute mit sehr gutem Gewissen. Der Tag des Buches schreit förmlich nach Kuscheldecke, Buch, GinTonic. Conny reist mit Ihrem Buch nach Südengland. Und Gin spielt dabei eine ganz wichtige Rolle. Um als Dienstauftrag Gin trinken zu müssen und vielleicht neue Ideen für die Getränkekarte zu finden, darf es diesmal sogar ein Krimi sein: Von Carsten Sebastian Henn „Der Gin des Lebens“.
Euphelia hört die Nachrichten. Sie weiß diese zu deuten. Sie kennt inzwischen die neuen Falten in Connys Gesicht und weiß, welche Gedanken sich dahinter verbergen. Genau heute wollten sich endlich einmal die Mitarbeiter, eben die gesamte Gutshotelfamilie, am Lagerfeuer zu Brot und Bratwurst und Bienenstich treffen. Die Vorfreude war unendlich groß.
Und doch kann Euphelia dieses Lächeln auf Connys Gesicht nicht übersehen. Was ist das? Das ist kein Lachen über einen Sonnenstrahl. Das ist ein großes Gefühl, welches in den Augen einen unübersehbaren Platz eingenommen hat. Torsten ist auch irgendwie total verpeilt. So aufgeregt rennt er durch die Gegend. Packt hier, schaut dort, sortiert, streichelt den Caddy. Was mag darin so Wertvolles sein? Euphelia kann ihre Neugier kaum zähmen. Rede, Conny! Was geht hier vor sich?
Und dann geht es los. Eulenhausen. Jetzt erahnt Euphelia, was Conny sooooo strahlen läßt. Hans-Christian Andersen hat gesagt: „Das wunderbarste Märchen ist das Leben selbst.“
Gemeinsam öffnen Conny und Torsten vor dem Wagon das Auto. Euphelia könnte brüllen vor Freude. Unglaublich, was in diesen wenigen Tagen passierte.
DANKE! DANKE! DANKE!
Es ist vollbracht. Heute morgen hat Torsten seinen Freischneider einkaufen dürfen. Freudestrahlend fuhr er damit auf den Hof. STIHLecht gekleidet geht es jetzt sofort ans Werk. Was für eine Glückseligkeit liegt auf seinem Gesicht. Ein Dank gilt auch der Firma Forst- & Gartentechnik Warnick in Güstrow, die wirklich einen wohlwollenden Preis berechnet hat. Conny kann Torsten gerade noch „Allzeit gute Fahrt!“ mit seinem Freischneider wünschen, da fällt auch schon das Visier vor sein Gesicht, klappen die Puschel auf die Ohren und – kein Vogel ist mehr zu hören. Ein bißchen hat sie das Gefühl, Torsten singt beim Mähen. Er singt von seinen Fans, von den wunderbarsten und treuesten und aktivsten und überhaupt besten Gästen, die sich ein Hotel weltweit auch nur vorstellen kann. DANKE!!!!!
Und nachher? Nachher werden sie gemeinsam mit Maxi am Wagon sitzen und die nächsten Schritte besprechen. Es geht weiter, es geht hier richtig los, Ihr lieben wahren Freunde. Euphelia ist dabei. Und Ihr auch bald wieder. Geduld!
Torsten wird dann schon mal was vorbereitet haben!!!
Euphelia spürt den Wind durch ihr Federkleid. Conny wuselt hier durch die Gegend, als gäbe es kein Morgen. Sie hat gestern Ninja geschaut und sich gedacht. Boh eh, das kann ich auch! Mein Buzzer ist der „Schlüsseltag“. Wenn wir endlich wieder öffnen dürfen, dann bin ich oben angekommen und kann den Buzzer hauen, volle Omme. Bis dahin heißt es vorbereiten, sich trainieren, immer wieder ran an den Start, Muskeln aufbauen, fit werden, immer locker in der Hüfte, schnell sein.
Um ja nicht zu zweifeln, sah sich Conny gleich noch im Anschluß in der Nacht Ausschnitte an aus ihrem geliebten Film „The Greatest Showman“. Ihr fiel auf: Ihre Manege ist nicht abgebrannt, ihre Ehe ist voller Vertrauen und Liebe, ihre Mitarbeiter sind alle an ihrer Seite und halten zu ihr, ihre Gäste werfen nicht mit Steinen und faulen Tomaten, Conny selbst hat das Lachen noch nicht verlernt und noch keine Geldscheine als Kontaktlinsen vor ihren Augen eingebaut – also mal ganz ehrlich – dann ist doch alles ganz einfach.
Einfach machen!!!!
Wißt Ihr, wie groß Eulenhausen ist und Connys Traum von einer heilen Welt auf ihrer Insel Literaturien? Und daneben dieses winzige Virus, man sieht es mit bloßem Auge gar nicht! Natürlich: Vorsicht, Rücksicht, mit Abstand betrachten, ohne Maske vor den Augen. Doch, da geht noch was.
Na dann, starten wir die Woche. Bei Sohn Charly in Mannheim beginnt heute das neue Semester. Für Tochter Maxi liegen zwei heftige Lerntage vor ihr, denn am Mittwoch besteht sie ihre Prüfung zum Ausbilder. Gleichzeitig steckt sie mitten in den Vorbereitungen zum Abschluß ihres Fernstudiums zum Hotelbetriebswirt. Connys Eltern erwarten am Donnerstag ihre zweite Impfung. Tochter Stefanie hat ihr Team für den Sommer in ihrem „Puddeminer Hafenrestaurant“ beisammen und schreibt die Speisekarte für die Außengastronomie in der Hoffnung auf baldige warme Tage und belebende Entscheidungen. Die Gutshotelfamilie bereitet sich auf den Termin des Schlüsseltags vor und Conny erwartet: Aktion!!!
Es muß endlich wieder spannend sein!!!
Für diese Woche hat Torsten entschieden, die Duschen in Haus 1, also im „Bücherhaus“, komplett zu sanieren. Alle acht Duschen sind bereits ausgebaut. Nun sieht man erst recht, wie wichtig diese Entscheidung war. Das große gründliche Putzen aller Fugen, Ecken und Ritzen kann beginnen. Die neuen Duschen stehen bereit.
Conny hat gestern einfach mal Eulenhausen in Farbe gemalt mit dem gelbem Steinweg. Das half beim Denken und Träumen. Merkt Ihr was: Sie ist bereit. Bunte Bilder sind so wichtig!!!!
Euphelia ahnt, daß sie wieder mehr Tinte schlürfen darf in den nächsten Tagen.
Euphelia fühlt sich seit Wochen wie auf einem Jahrmarkt. Sie sitzt in Connys Gedankenkarussell, fest angeschnallt. Jedes Mal, wenn sie aussteigen will, geht es in rasender Fahrt weiter. Mal in einer Achterbahn, mal in einem rasselnden Kettenkarussell, doch meistens auf einer einfarbigen tristen Gondel in einem Riesenrad. Immer, wenn sie am höchsten Punkt den Ausweg für sich und damit das Ende von Connys Gedankenlabyrinth entdeckt, geht es schon wieder bergab. Nie nach vorne oder nach hinten, immer rundherum. Kein Aussteigen möglich. Fahrt beginnt von vorne. Auf der gleichen Strecke. „Und täglich grüßt das Murmeltier“.
Doch heute ist Euphelia an einem Tiefpunkt einfach ohne nachzudenken abgesprungen. Kein Zögern, kein Zaudern. Mut? Oder war ihr einfach nur schlecht? Egal. Manchmal ist es eben egal, warum etwas getan wird. Kein Zögern, kein Zaudern, einfach machen. Mit Abstand um die Ecke gucken. Den kalten Wind im Gesicht spüren. Tief Luft holen. Rücken gerade. Euphelia fleht Conny förmlich an. Bitte, Conny, tief Luft holen, Kopf hoch, Rücken gerade, Spiegelbild anlächeln. Bitte!!!! Und da, Euphelia kann es kaum fassen. Ganz zaghaft, wie aus einem langen Traum erwachend, schaut Conny sie an. Lächelt. Hebt den Kopf mit dem Blick weit über die Hügel in die Ferne gerichtet. Das Karussell hält an. Und, und, und …Euphelia ist ganz aufgeregt. Sie atmet einen großen Schlürf Tinte, steht in ihrem silbernen Füßlein angespannt und bereit für das erste Wort. Da hebt sich auch der Schleier vor Connys Augen. Euphelia denkt kurz an Ronja, die Räubertochter. Käme jetzt von Conny der Frühlingsschrei aus vollem Halse, es würde sie nicht wundern. Doch es kommt ein ganz, ganz tiefer Seufzer von so weit innen her. Tränen fließen über ihr Lächeln, kaum zu stoppen.
Und da ist es endlich in bunten wunderschönen Farben, strahlend hell: Das Bild der Zielgeraden in Conny drinnen vor ihrem inneren Auge. Heute hört Conny keine Nachrichten mehr, sie konzentriert sich auf dieses Gemälde. Seit Wochen sah sie kein klares Bild vor sich für die nahe und ferne Zukunft. Ausstellung der Visionen geschlossen. Doch heute ist ein MuseumsTag. Euphelia strahlt. Noch ist es zwar nicht das klare Bild nach dem SchlüsselTag. Kein Wunder, denn Termin und notwendige Maßnahmen sind komplett unbekannt. Doch das Bild einer langen breiten Straße, geradeaus, bunt gesäumt am Wegesrand sieht sie deutlich vor sich. Heute will sich Conny nicht umblicken nach hinten auf den gewundenen, holperigen, steinigen Pfad, der in den letzten Monaten hinter ihr liegt. Sie heftet den Blick auf die Zielgerade, als bedeute es ihr Leben – und ein bißchen ist es ja auch so. Noch sind keine Schilder für die Abzweigungen, für die Etappenziele zu erkennen. Doch mit dem ersten aktiven Schritt auf dieser zauberhaften Allee wird sie ein Ziel nach dem anderen entdecken. In diesem Moment fällt ihr die schöne Pflasterung des Weges auf. Es ist ein leuchtend gelber Steinweg. Conny setzt sich zu Euphelia an den Tisch. Beide sind bereit.