Nichts los hier im Wohnzimmer. Euphelia langweilt sich.
Dabei wäre doch jetzt ausreichend Zeit, um am Tagebuch zu schreiben, um Fotos
aufzuarbeiten.
Conny sitzt ganz bei ihr in der Nähe am runden Tisch im
Wohnzimmer. Sie hat einen großen Stapel Post aus den letzten Tagen vor sich. Es
sind Briefe und Karten von Gästen, die gute Wünsche und Kraft schicken.
Natürlich, Euphelia hat es schon geahnt, rollen die Tränchen schon wieder bei
Conny. Jeder weiß es, sie ist einfach nahe am Wasser gebaut. Wer ihren Papa,
den Heinz am Akkordeon kennt, ahnt, woher sie das hat. Sie wird sich bedanken
bei allen, doch im Moment erkennt Euphelia ihre Aufgabe von ganz allein,
einfach in diese Runde ein großes Danke zu schicken für die Durchhaltewünsche,
für die Nähe in der Ferne. DANKE!!!!!!!
In diesem Moment ruft Maxi aus dem Büro. „Schon wieder
eine Bestellung!“ Ja, das ist eine ganz wunderbare Idee der Gäste. Sie
bestellen schöne bibliophile Dinge in der BuchBar. Euphelia spürt die Freude
ihrer drei letzten Mohikaner an Bord. Mit den Bestellungen in der BuchBar kann
hier im Gutshotel Geld verdient werden gegen wahre Leistung. Ein toller
Gedanke. Im Januar hatten Conny und Charly noch einmal gut für das Ostergeschäft
eingekauft. Danke an alle, die diesen Weg nutzen, um sich selbst oder den
Nächsten eine Freude zu bereiten. Für uns sind diese online-Bestellungen eine
wunderbare Hilfe. DANKE!!!!
Euphelia war ganz aufgeregt, als Maxi und Conny angeradelt
kamen. Conny hat es geschafft, jubelten Torsten und Euphelia gleichzeitig.
Torsten stand wartend auf dem Hügel am Ausguck und hatte die beiden Fahrräder
von dort aus bereits entdeckt. Das Lächeln auf den Gesichtern von Maxi und
Conny sprach Bände, war breit und strahlend, doch komplett unterschiedlich.
Maxi, du Biest, dachte Euphelia, es hat geklappt. Du hast es genau gewußt.
Setze deine Mama auf ein Fahrrad und magische Kräfte wirken. Euphelia meinte,
ein verschwörerisches Zwinkern von Maxi zu sehen.
Gerade wollte sich Euphelia noch Connys Lächeln genauer
anschauen, da war es bereits hinter einem Sektglas verschwunden. Torsten hatte
da mal etwas vorbereitet, gleich vor dem Haus auf der Bank. Hatte Conny
wirklich Sekt im Glas? Kurz! Macht nichts, dieses Zittern in den Beinen beim
Absteigen, welches Euphelia nicht entgangen war.
Doch die Augen sind klarer, stellt Euphelia nun fest.
Connys Blick ist nicht mehr so nach unten gerichtet, ein kleines Funkeln steckt
schon wieder darin.
„Käpt’n!“ flüstert Euphelia. „Es ist soweit. Du wirst
gebraucht an Bord. Nimm neben den anderen beiden deinen Platz auf der Brücke
wieder ein. Der Sturm ist rauh, doch Leuchtfeuer allüberall helfen euch bei
deiner Fahrt durch die Klippen. Laß die beiden nicht allein im Wind. Käpt’n
steh auf, nimm das Steuer in die Hand!“
Und ein bißchen scheint es Euphelia, als ob Conny sie verstanden hat. Als ob sie mit einem fast unmerklichen Nicken antwortet, sehr nachdenklich, den Kopf leicht schief, die Lippen ein Strich, doch den Rücken schon viel gerader.
Euphelia wiegt nachdenklich ihr Federköpfchen. Geht hier
schon was oder spürt sie noch immer diese Traurigkeit?
Doch dann kommt Maxi ins Wohnzimmer, begrüßt Euphelia mit
einem strahlenden Lächeln. Die große Gästeschar, bestehend aus den Eltern,
singt ihr ein Ständchen und da weiß Euphelia, ganz tief im Herzen beginnt ein
Aufwärts. Sie werden es schaffen.
Gestern hat Torsten den ganzen Tag im Laub verbracht, bis
auf einigen Wegen abends keins mehr da war. Heute stellt er nach einem leisen
Gespräch mit Maxi das rote Fahrrad vor das Haus. Es hat sich im letzten Jahr
keinen einzigen Kilometer bewegt. Was wird das?
Maxi wünscht sich eine gemeinsame Radtour mit Mama zum
Geburtstag. Torsten wird Fahrrad und Mama nach Güstrow fahren, vorher schon
Maxi ebenso, denn deren Fahrrad steht in Güstrow. Dann soll zu zweit von
Güstrow nach Groß Breesen zurück geradelt werden. Ohje, ohne Zwischenübernachtung?
Nur einmal angenommen, Conny fährt diese Tour, ohne von
Torsten eingesammelt zu werden, und lächelt bei Ankunft, so denkt sich
Euphelia, dann hat sie es geschafft. Dann wird es einen Plan geben, dann wird
sie Boden unter den Füßen spüren, dann hat die Starre ein Ende und Conny
vielleicht wieder Worte.
Maxi ist wirklich ein gerissenes Genie.
Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag – auch von Euphelia.
Euphelia
ist wirklich hellwach. Doch es kostet sie große Anstrengungen, alles
zu verstehen, was um sie herum vorgeht – oder besser gesagt, was
nicht. Nach Sonnabend kam Sonntag – diese Stille! Kein Buch in den
Kartons vor der BuchBar hat seinen Platz gewechselt. Jeden Morgen
bemerkt Euphelia, wie Conny und Maxi einen Blick über die Kartons
schweifen lassen. Dann erst kommt das Erinnern und die Augen senken
sich. Euphelia weiß nichts zu tun, außer zu beobachten. Sie kann
nicht helfen. Sie kann nur vertrauen, daß die vier stark genug sein
werden, um diese Tage zu meistern. Conny schwankt noch zwischen
Verstehen und kompletter Mutlosigkeit. Putzen hilft, hat sie gemerkt.
Conny putzt. Als ob hinter einer imaginären Schicht aus Schmutz und
Staub die Hieroglyphen eines Zukunftsplanes freigelegt werden können.
Maxi hält den Kontakt zur Außenwelt aufrecht. Sie beantwortet
Mails, ist auf facebook und am Telefon. Euphelia bewundert ihre
Klarsicht und die Tatkraft. Die beiden Männer würden wohl Holz
hacken, statt dessen schleppen sie Sofas und Schränke und reißen
Wände aus. Ja, denkt sich Euphelia, jede Zeit hat ihre zwei Seiten.
Diese Familie lebt gerade ein großes Geschenk der gemeinsamen Zeit
zu viert. Sie erleben neben eigenen Meisterschaften im Tischtennis,
Stunden bei Uno, Skipbo und Rommé, bei Mensch ärgere dich nicht und
Ligretto, Abende am Lagerfeuer.
Natürlich merkt Euphelia ihnen die Schwere vieler Entscheidungen an. Da wird Charly in den nächsten Tagen wieder losfahren nach Heidelberg, da sind viele Fragen am Schreibtisch offen. Doch manchmal ist es so sehr wichtig, einfach den Tag zu leben, einfach den Moment. Doch wer hat uns das beigebracht? Immer, immer dreht sich das Hamsterrad. Wer hat uns beigebracht, da auszusteigen? Mit welchem Fuß zuerst? Nehmen wir diese Zeit als Übung, einmal den Ausstieg aus dem Hamsterrad zu meistern.
Schon toll, mit wieviel Kraft diese Blumen unter dem Stein hervor wachsen – und mit Sicherheitsabstand!
„Faust!
Faust!“ Was ein lautes Rufen werden sollte, wurde ein winziges
Zirpen. Ein Zittern ging durch ihre Feder vom Fuß bis zur Spitze.
„Faust!“ flüsterte sie noch einmal mit sehr schwacher Stimme.
Euphelia
erwachte, noch immer etwas benommen. Ganz, ganz langsam versuchte
sie, sich zu erheben. Sie ruckelte und zuckelte, zwar schwach, doch
es reichte, um mit Freude zu bemerken, daß ihr kleiner angekokelter
Freund Faust noch immer schräg gegenüber in der Glasvitrine an
seinem Platz zwischen den Fotobüchern stand.
Es
war ruhig um sie herum, total ruhig. Was war das? Obwohl
Sonnenstrahlen ihre Federnase kitzelten, gab es keinen Laut um sie
herum. Kein Lachen drang an ihr Ohr, kein Rascheln von umgeblätterten
Seiten. Hatte sie gar nicht geträumt? Gab es wirklich dieses
Schlüsselgerassel am hellichten Tag? Sie schaute zu ihrem Freund
Faust hinüber. Er sah traurig aus, ganz in sich gerollt.
„Faust“,
flüsterte Euphelia ängstlich in die Stille hinein, „was ist
passiert?“
„Sie
sitzen draußen am Feuer.“
„Wieso?
Die Sonne scheint! Was ist passiert?“
„Sie
wärmen ihr Herz. Sie trocknen die Tränen. Sie schauen schweigend in
die Flammen und suchen nach Hoffnung und Ideen.“
„Faust!
Was ist passiert? Was habe ich verschlafen? So viele schöne Gedanken
sind mit mir in den letzten Tagen und Wochen in das große Buch
geschrieben worden, daß ich wohlig erschöpft eingeschlafen bin.
Sag, was ist los?“
„Ach,
Euphelia, es ist schrecklich. Die letzten Gäste reisten heute ab.
Danach verschloß Torsten alle Eingangstüren. Unsere beiden
Hausherren saßen mit ihren Kindern Maxi und Charly gemeinsam im Büro
und konnten es nicht begreifen. Wie unter Schock verfolgten sie die
Flut der Mails mit den Stornierungen, folgten sie der Aufforderung,
ihr Hotel und das Restaurant auf unbestimmte Zeit zu schließen,
letztlich auch als Maßnahme, sich selbst und die Mitarbeiter zu
schützen.
So
saßen sie einfach beisammen, schweigend, fragend, angegriffen von
einem Feind, dem sie nicht in die Augen schauen können. Hilflos,
weil keiner die Länge des Tunnels kennt, an dessen Ende das Licht
steht. Getröstet, weil sie gemeinsam und vereint in diesen
ungewohnten Kampf ziehen.
Wenig
später zündeten alle vier unter der strahlenden Sonne ein Feuer im
Gutspark an. Mit jedem Holzscheit warfen sie einen ihrer Zweifel und
Ängste ins Feuer. Als die Flammen ihren lodernden Tanz begannen,
spürten sie, wie ein Zipfelchen Mut, ein Fünkchen Zuversicht ganz
in ihnen zu wachsen begann.“
Faust
seufzte nach dieser langen Erzählung. Euphelia war sehr ergriffen.
Eine
Erkenntnis, sonnenklar, straffte ihr Federkleid.
Euphelia
wird Geschichten schreiben über die Erlebnisse, die Tage wie diese
lebenswert machen. Wenn der Schock ihre Hausherren nicht mehr lähmt,
wenn die Gedanken wieder klarer sind, wenn das Vorgehen für die
nächsten Tage einem Plan gleicht, werden Conny und Torsten mit ihren
Kindern nicht nur ihre große Gutshotel-Familie, sondern auch ihren
Freunden und Gästen wieder Ideen für das „Abenteuer Leben“
mitteilen, werden sie Feenstaub des Lächelns auf die Gesichter
zaubern, werden sie Zuversicht, Mut und Gelassenheit mit den
Menschen teilen, die ihnen nahe sind.
Euphelia, als Hausschreibfeder der Insel Literaturien, ist plötzlich hellwach.