Advent mit Euphelia – 4. Tür Euphelia muß an die frische Luft. Seit Tagen springt sie schon von einem Gedicht zum nächsten Drama. Manchmal hat sie Angst, zwischen die Zeilen zu geraten. Wo ist bloß die Tür, die nach draußen führt? Nachdem sie über Nacht interessiert dem Rat ihres Herzens folgte, steht sie nun auf ihrem Stammplatz im Wohnzimmer. Sie erinnert sich an den allerersten Satz bei Gabriel Barylli „Folge dem gelben Steinweg“ Da steht: „Der Weg ins Freie führt durch die Tür – warum nimmt niemand diesen Weg?“ Scheinbar ist dies der Hinweis für den heutigen Tag: Komisch, genau jetzt spürt sie auch den kalten Windhauch. Stand die Tür schon die ganze Zeit offen? Sie hat sich nur nach hinten orientiert, dabei gar nicht nach vorn geschaut. Hier also ist die Tür zur Freiheit. Ganz vorsichtig lugt sie durch den Spalt und schwebt durch das Treppenhaus direkt in den Gutspark mit den riesigen alten Kastanien. Vor lauter Aufregung und Neugier hat Euphelia ganz vergessen, was sie hier draußen im Park eigentlich erledigen wollte. Da sieht sie neben einer Tasse Tee und einer dicken Decke auf dem Stuhl den Bestseller „Haus der Harmonie“
von Barbara Wood. Ohja, das möchte sie schon lange unbedingt lesen. Doch nun weiß sie auch wieder, was so wichtig ist heute: Euphelia wird jetzt Barbara-Zweige schneiden.
Als
heute morgen durch den Nebel hindurch ein zarter Sonnenstrahl
schimmerte, legte Euphelia das durchgelesene Buch beiseite. Aha,
schaute sie nach draußen, das ist also Wintersonnenglanz. Mit diesem
letzten Gedanken kippte sie einfach um und fiel in einen tiefen
Bookoholikerschlaf. Im Traum lag sie in einem Büchernest. Neben ihr
spielte jemand zart Klavier und um sie herum wurden Kekse gebacken
und Texte vorgelesen.
Sie
erwachte mit großem Schreck vom Plätschern einer überlaufenden
Badewanne. Das Wasser durchnäßte Buch für Buch in den
herumstehenden Kisten. Voller Panik in der Feder stand sie
kerzengerade auf ihrem silbernen Fuß und schaute sich vorsichtig um.
Euphelia
hatte bis Mittag geschlafen und das Plätschern kam aus einer
Flasche, dessen Sprudelwasser ins Glas gegossen wurde. Die
Klaviermusik entpuppte sich als schnelles Klappern auf der
Computertastatur. Neben Euphelia stand ein voller Teller mit
frischgebackenem Adventsgebäck. Dieser leerte sich schneller, als
Euphelia das Wort Keks aussprechen konnte.
Drei
verschiedene Telefone gab es in dieser vollgestellten Rumpelkammer.
Deren Klingeln entschied über den Bewegungsablauf der Tastaturfinger
und der Gespräche um Euphelia herum.
Sie
schwebte nun auf den großen Schreibtisch genau neben ihr, von dem
allerdings vor lauter Papierstapel nicht mehr viel zu sehen war.
Obenauf lagen verschiedene Listen.
Euphelia
haßte Listen. Am meisten haßte sie diese Erledigungslisten, es sei
denn, sie hießen „Tue Du“ – Listen. Doch was passierte hier
gerade genau neben ihr? Konnte das sein, daß es ihr nicht allein so
erging?
Die
Tastaturfinger glitten langsam von Punkt zu Punkt über eine lange
Liste. Dann schrieben sie blitzschnell einen neuen Punkt unter alle
anderen – strichen ihn durch und setzten ein freudvolles Häkchen
für „erledigt“.
Die
Hände der Tastaturfinger rieben vor Freude aneinander. Euphelia
konnte sich ein lautes Lachen nicht verkneifen.
Doch
die Finger wurden plötzlich emsig. Voller Euphorie über einen
erledigten Punkt (auch wenn er vorher gar nicht auf der Liste stand)
wurde jetzt der ganze Schreibtisch in Alarmbereitschaft versetzt.
Ohne
eine Chance auf Flucht für Euphelia wurde eine Schranktür hinter
dem Schreibtisch geöffnet und schon wieder war sie hinter Glas.
Nach
dem ersten Schreck fühlte sie sich ganz wohl in diesem Büchernest.
Neben sich las sie den Namen
John
Strelecky
auf
einem sympathischen kleinen Büchlein.
„Folge
dem Rat deines Herzens“
wisperte
es ihr zu. Na toll, dachte Euphelia, Tür ist zu, ich folge hier
nirgendwohin. Doch dann las sie weiter
„..
und du wirst bei dir selbst ankommen.“
Das
hörte sich nach einer erneuten Nachtschicht an für Euphelia. Und
sie war sich nicht wirklich sicher, ob sie es überhaupt wollte.
Sie
war noch skeptisch, ob es hier in der Ecke dieser Kammer, hinter
dieser Glastür, also ganz am Rande der Welt am Morgen wenigstens
einen guten Kaffee geben würde.
Eigentlich ist Euphelia, die Hausschreibfeder,
verantwortlich für die Aufzeichnungen im BuddelBuch. Sie liebt ihren Job und
ist besessen von Geschichten. Doch in
den letzten Tagen hat ein Sturm in der Buddel das Lettermeer aufgewirbelt.
Viele Gedanken flogen wild durch die Flasche und wollten beste Plätze auf den
leeren, aufgeblätterten Seiten des BuddelBuches einnehmen. Euphelia erinnert
sich daran, daß dies kurz vor dem Ende eines Jahres immer so war. Plötzlich
fällt jedem ein, was alles noch geschafft werden muß. Als ob es kein Leben nach
dem 24. Dezember gäbe. Und als ob Kekse und Glühwein im Januar nicht auch noch
schmecken würden.
Doch Euphelia ist nach ihrem langen Vitrinenschlaf viel
zu aufgeregt, um fliegende Gedanken einzufangen. Gerade hat sie beim Abschied
mit Faust diskutiert, ob es gut wäre, wenn man in einem Zustand der
Glückseligkeit verweilen könnte. Seit
ihrem Verlassen der Vitrine kommt sie nicht einen Augenblick zur Ruhe. Den
jungen Werther hat sie versucht zu trösten, dem kleinen Prinzen seine Fragen
beantwortet, denn der hätte sonst sowieso keine Ruhe gegeben. Sie hat Aladins
Lampe geputzt und die grauen Anzüge der grauen Männer in die Waschmaschine
gesteckt, damit Momo ein wenig verschnaufen kann.
Doch nun geht Euphelia wieder auf Entdeckungsreise. Sie
hörte heute Menschen darüber reden, daß ihnen der Stoff ausgegangen ist. Was
ist das für ein Zeug, über das man so offen und ungestraft reden darf? Jemand
kam sogar mit einem ganzen Karton voller Stoff. Sofort sprangen die Süchtigen
fast hinein. Mehrere brachten einzelne Exemplare sehr vorsichtig in einen Raum
gleich neben ihrem neuen Stammplatz. Diese Tür wird verblendet von lauter
Ansichtskarten. Darauf sieht Euphelia lesende Wesen in allen möglichen Positionen.
Sind das alles welche, die von diesem Stoff abhängig sind, fragt sie sich
bange. Und wer ist es, dem mit einem glückseligen Lächeln einzelne gebundene
Werke in diesen Raum gebracht werden? Ein bookoholiker? Einmal wurde es richtig
spannend. Jemand rief plötzlich ganz laut: „Das hier, Conny, das hier kannst Du
nach Feierabend regelrecht vernaschen. Es ist so schön und leicht und doch hat
es eine Linie und paßt zu Weihnachten.“
Also, kann man es essen. Naschen. Macht nicht dick. Aber
neugierig.
Euphelia schleicht sich in diesen geheimnisvollen Raum
und erstarrt, als sie den Blick hinter die Tür wirft. Was für eine
Rumpelkammer. Der Weg bis zu dem Schreibtisch, der gerade noch so als einer zu
erkennen ist, gleicht einer Hindernisbahn. In diesem Raum würde jeder
Staubsauger seine Kündigung einreichen. Doch am meisten fesselt Euphelia der
Blick auf die vielen verschiedenen kleinen und großen Stapel an Büchern. Ah,
von diesem Stoff haben sie gesprochen. Gleich an der Ecke auf dem Schreibtisch
liegt auf einem gewagten Stapel das empfohlene Buch vom Vormittag:
GabriellaEngelmann
„Wintersonnenglanz“.
Da kann auch Euphelia nicht widerstehen. Sie stellt ihr
silbernes Stiefelchen neben das Buch und schlägt die erste Seite auf. Naschen
von Buchstaben ist soooo schön. Morgen ist ja auch noch eine Tür. Heute wird
gelesen und nicht geschrieben.
Euphelia
verließ heute am 1. Dezember die Glasvitrine. Seit Jahren lag sie,
verborgen in einer wunderschönen Schachtel, hinter den Fotobüchern.
Ihr wurde nie langweilig, tauschten doch die Fotos ständig lautstark
ihre Geschichten untereinander aus. Über diese Erinnerungen wird sie
später noch so manch eine Notiz schreiben. Doch zunächst kam
gestern ihr großer Tag….
Vor
langer Zeit war ihr nämlich von einem kleinen, an einer Seite
verkokelten Reclambüchlein folgendes prophezeit worden:
„Viel,
Euphelia, viel wird man über Dich schreiben. Und viel, Euphelia,
viel mehr kannst Du selbst schreiben, denn Du, Euphelia, bist eine
echte Eulenfeder und kennst besser als jeder andere die Geschichten
rundherum um das Bücherhotel. Doch erst dann, wenn jemand öffentlich
eine Laudatio auf Dich hält und anderen bibliophilen Menschen von
Dir vorliest, erst dann erwachst Du, Euphelia, aus Deinem langen
Vitrinenschlaf, um erneut auf Entdeckungsreise zu schweben.“
Gestern
auf der Adventslesung fand dieses besondere Ereignis im Beisein von
mehr als zwei Dutzend liebevoll Hinhörenden statt.
Heute,
pünktlich zum 1. Advent, hat sich die Hausschreibfeder Euphelia von
den Fotobüchern mit einem damenhaften Nicken verabschiedet und die
Glasvitrine verlassen.
Für sie öffnete sich die ERSTE Tür.
Mit
einem Glas Tinte neben sich, um den Durst zu löschen, reckt sich
Euphelia auf dem Rand der Glasvitrine in die Höhe und streckt ihren
zarten silbernen Fuß ganz lang aus. Mondstaubviolett durchströmt
sie ein wunderbares Gefühl wiedergewonnener Freiheit. Voller
Neugier, Tatendrang und Entdeckerlust wackelt sie in ihrem silbernen
Stiefelchen. Die wunderschöne zartgoldene Eulenfeder Euphelia ist
sehr gespannt, wohin die nächste Tür sie wohl führen wird.
Wir sind so aufgeregt, nun mit unserem einzigartigen BuddelBuch das neue Logo für alle Bookoholiker präsentieren zu können. Ganz sicher durchweht ein guter Geist diese Flasche, in der ein aufgebauschtes Blättersegel über den Buchstabensee flattert. Vielleicht ist es auch Prosecco! Wir werden viele Gelegenheiten nutzen, um alle geistreichen Seiten in unserem BuddelBuch zu ergründen. Wir freuen uns auf fröhliche Bookoholiker, die mit uns neue Gedanken anstoßen.